Die ersten Hürden sind geschafft. Man hat sich für eine außerschulische Diagnostik entschieden, ein geeigneter Spezialist wurde gefunden, die verschiedenen Tests wurden bereits absolviert und der Befund liegt vor uns. Der Umfang des Befunds kann sehr unterschiedlich ausfallen. Vom äußerst kurz und knapp formulierten 2-Seiter bis zum mehr als ausführlichen 50-Seiter mit zig Wiederholungen ist alles möglich. Was beinahe alle Befunde gemein haben, ist die für Laien teilweise fehlende Lesbarkeit der verschiedenen Abkürzungen und Zahlenwerte. Normalerweise bekommen Sie einen Befund von der Psychologin oder dem Psychologen nicht einfach ausgehändigt, Sie erhalten ein ausführliches Beratungsgespräch. Lassen Sie sich alles genau erklären, nutzen Sie das Beratungsgespräch für noch offene Fragen. Dieser Beitrag soll helfen, das Fachchinesisch in einem Befund verständlicher zu machen.
… sollte man wissen, dass wir alle Menschen mit unterschiedlichen Talenten und Begabungen sind. Wir können nicht in allen Dingen gut sein. Wir alle haben Begabungen. Gut und weniger gut ausgeprägte Fähigkeiten. Wir haben unsere Schwächen und in manchen Bereichen sind wir komplett unfähig. Ich habe Höhenangst, was eine schlechte Voraussetzung für eine Kariere als Turmspringerin ist. Einer erfolgreichen Musikkarriere steht meine leider in jeder Hinsicht nicht vorhandene Musikalität im Wege. Na und? Obwohl ich nach wie vor gerne viel und laut unter der Dusche singe, habe ich ein anderes Berufsfeld gefunden, das mir Spaß macht und mein Leben mit Sinn erfüllt.
Der Befund deckt womöglich eine Schwäche auf. Dies ist aber keine Niederlage, sondern eine Chance etwas dagegen zu unternehmen. Man weiß nun, warum manches in der Schule nicht so läuft, wie es sollte. Die richtigen Fördermaßnahmen können nun eingeleitet und die notwendige Unterstützung kann organisiert werden.
Ein gewissenhafter Befund wird in der Regel mit einer konkreten Fragestellung eingeleitet. Warum wurde man beim Psychologen vorstellig? Was will man wissen? Die Frage könnte also lauten: Hat XY Legasthenie?
Danach folgt der Teil, der gut lesbar ist, aber bei den knappen 2-Seitern leider meist fehlt. Es werden die Vorgeschichte und die subjektiven Angaben der Eltern und Lehrkräfte beschrieben. Damit man die Ergebnisse des Befunds angemessen interpretieren kann, wird auch auf das Verhalten des Kindes während der Untersuchung eingegangen. Das kann vor allem dann wichtig sein, wenn das Kind beispielsweise sehr schüchtern und ängstlich ist. Die Testergebnisse könnten in diesem Fall schlechter ausfallen, als wenn das Kind sich neugierig und vertrauensvoll auf die Testsituation einlässt.
Nun kommt der schwierige Teil eines Befunds. Hier beginnt der Laie nur mehr Bahnhof zu verstehen. Die verschiedenen Testverfahren werden genannt und beschrieben, die einzelnen Ergebnisse werden nummerisch angegeben. Viele Abkürzungen … viele Zahlenwerte … dazu später mehr.
Anschließend wird es wieder interessanter und etwas einfacher. Die Ergebnisse werden interpretiert und die anfangs gestellte Frage wird ENDLICH beantwortet.
Zu guter Letzt werden die Ergebnisse noch einmal zusammengefasst und Empfehlungen werden gegeben.
Was bedeutet das für faule Leser? Man liest im Zweifelsfalle die Fragestellung und blättert bis zur Interpretation der Ergebnisse.
Diese Hieroglyphen sind Abkürzungen für verschiedene Testverfahren, die beispielsweise bei der Untersuchung angewandt wurden. Die Abkürzung der unzähligen Tests im Einzelnen aufzuzählen und zu erklären, würde an dieser Stelle zu weit führen, vor allem deswegen, weil nicht jede Diagnostikerin und jeder Diagnostiker die selben Testverfahren anwendet. Um den Befund zu verstehen reicht es, wenn Sie aus dem Text entnehmen können, ob es sich um einen Intelligenz-, Lese-, Rechtschreib- oder Rechentest handelt. Als Beispiel seien hier trotzdem zwei Tests angeführt:
In Österreich sehr beliebt ist der SLRT II. SLRT steht für Salzburger Lese-Rechtschreibtest. Die römische Zwei gibt die Version an. Ein Computerfreak hätte den Test vermutlich eher SLRT 2.0 getauft.
Der BADYS 5-8+ ist ein recht aktueller Rechentest. BADYS steht für Bamberger Dyskalkuliediagnostik. 5-8 bedeutet, dass der Test für die Klassenstufen 5 bis 8 eingesetzt werden kann. Das Plus gibt an, dass der Test gegebenenfalls auch über die 8. Schulstufe hinweg verwendet werden kann.
Dabei handelt es sich um Werte, die mit standardisierten Tests erhoben werden. Diese Tests wurden mit einer möglichst großen Anzahl von Kindern durchgeführt. Dadurch erhält man verschiedene statistische Werte und der Autor des Tests kann somit eine Normtabelle erstellen. Wird nun zum Beispiel ein Lesetest mit einem Kind durchgeführt, ermöglichen diese Normtabellen die Vergleichbarkeit der Leseleistung des Kindes mit anderen Kindern derselben Schulstufe.
Der Prozentrang gibt wie der Name schon sagt einen Rang an. Die schlechteste Leistung entspricht dabei einem Prozentrang von 0, das beste Ergebnis entspricht einem Prozentrang von 100.
Ein Prozentrang von 20 bedeutet, 20% der Kinder derselben Klassenstufe zeigen eine schlechtere Leistung und 80% eine bessere Leistung als das getestete Kind.
Bei diesen Rängen kann man aber nur über die Reihenfolge der einzelnen Leistungen etwas aussagen, nicht jedoch über die genauen Abstände zwischen den Rängen. So wie es beim Skifahren einen Unterschied macht, ob der Zweitplatzierte einen Rückstand von einem Hundertstel oder von zwei Sekunden hat. Ein Hundertstel Rückstand war einfach Pech, bei einem Rückstand von zwei Sekunden kann man sagen, dass der Zweitplatzierte deutlich schlechter gefahren ist und ein Extratraining einschieben sollte, um den Trainingsrückstand aufzuholen.
Um sichere Angaben über die verschiedenen Leistungen von Kindern machen zu können, benötigt man Normwerte, bei denen nicht nur die Reihenfolge der Rangplätze berücksichtigt wird, sondern auch die Abstände dazwischen. Solch ein Normwert ist unter vielen anderen der T-Wert. Die Leistung des Kindes wird hier mit einem Mittelwert verglichen. Beim T-Wert liegt dieser Mittelwert bei 50. Die Leistungen der einzelnen Kinder weichen nun vom Mittelwert unterschiedlich weit ab. In diesem Zusammenhang spricht man auch von Standardabweichungen. Diese ist beim T-Wert 10. Zieht man 10 nun einmal von 50 ab erhält man 40. Zählt man 10 hingegen zu 50 hinzu, ergibt das 60. Nun weiß man, dass 68% aller getesteten Kinder einen T-Wert zwischen 40 und 60 erzielen.
Ab welchem Prozentrang oder T-Wert spricht man von Legasthenie oder Dyskalkulie? Eine einfache Frage, auf die man leider keine klare Antwort geben kann.
Lernstörungen zu diagnostizieren ist nicht so einfach wie das Feststellen einer Schwangerschaft. Schwanger ist man, oder man ist es nicht. Ein bisschen schwanger gibt es nicht.
Lernstörungen verhalten sich wie Übergewicht. Ab wie viel Kilo ist jemand übergewichtig? Ab 80 Kilo? Jetzt könnt man denken, Moment einmal, meine Nachbarin ist 1,65 m groß, ich bin 1,95 m, sollte das nicht einen Unterschied machen? Macht es auch. Es reicht also nicht einfach einen Grenzwert, wie hier die 80 Kilo festzulegen. Es müssen auch andere Kriterien mitberücksichtigt werden, wie Größe und Muskelmasse. Dieselben Probleme gibt es bei der Diagnose von Lernstörungen. Autoren sind sich uneins, wo dieser Grenzwert liegen soll. Sehr strenge Autoren meinen, der Grenzwert müsse 2 Standardabweichungen unter dem Mittelwert liegen. Das würde bedeuten nur Kinder mit einem T-Wert unter 30 würden eine Diagnose erhalten. Das wären 2,3% aller Kinder. Weniger strenge Autoren halten einen T-Wert von 40 als hinreichend. Das würde bereits auf 16% aller Kinder zutreffen. Außerdem sind weitere Kriterien wie beispielsweise allgemeine Intelligenz und Leidensdruck mitzuberücksichtigen.
Normwerte alleine sind daher nicht alleine Ausschlag gebend für die Diagnostik, sie helfen aber u.a. bei der Einschätzung, wie stark ein Kind betroffen ist.
Einen Befund verstehen ist nicht einfach. Das Wichtigste steht überwiegend am Anfang und ganz am Schluss. Nutzen Sie das Beratungsgespräch bei der Psychologin oder dem Psychologen für Fragen. Sollten Sie sich für eine Therapie entschließen, nehmen Sie den Befund mit zum Kennenlerngespräch. Die BALDT-Therapeutin oder der BALDT-Therapeut wird Ihnen gerne Ihre Fragen zum Befund beantworten.
BALDT-Therapeutinnen und -Therapeuten beraten nicht nur Eltern, sondern helfen gerne auch Lehrkräften beim Lesen und Interpretieren eines Befunds.
Noch Fragen? Dann besuchen Sie unsere Facebookgruppe Legasthenie und Dyskalkulie Österreich.
Autorin: Ute Temel, MA, Akademische Therapeutin für Lernstörungen