Die Unterstützung für Kinder mit Lese-Rechtschreib-Schwäche (LRS) oder Dyskalkulie variiert von Land zu Land. So werden Kinder mit Lernschwierigkeiten in den USA durch den Individuals with Disabilities Education Act (IDEA) geschützt. Dieser soll sicherstellen, dass betroffene Kinder Zugang zu speziellen Bildungsprogrammen haben. Aus Deutschland sind uns Maßnahmen wie Nachteilsausgleich und Notenschutz bekannt. Doch wie sieht es damit in Österreich aus?
Anders als in Deutschland, wo Kinder mit Lernstörungen Anspruch auf einen Nachteilsausgleich oder sogar Notenschutz haben können, gibt es in Österreich keine explizite Regelung dafür. Stattdessen müssen sich österreichische Schulen auf verschiedene Gesetze, Verordnungen und Erlässe stützen, um Maßnahmen zum Ausgleich von Nachteilen zu ermöglichen.
In einer Mitteilung des Wiener Stadtschulrates an alle allgemeinbildenden Schulen (2016) heißt es:
Der Begriff „Nachteilsausgleich“ kommt in österreichischen Gesetzen, Verordnungen und Erlässen nicht ausdrücklich vor. Allerdings kann er u. a. aus folgenden Bestimmungen abgeleitet werden:
• Art. 24 UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen,
• Art. 7 Bundes-Verfassungsgesetz,
• § 18 Abs. 6 Schulunterrichtsgesetz und
• § 2 Abs. 4 Leistungsbeurteilungsverordnung.
Die aktuellen Erlässe gewähren Lehrkräften einen recht großen Handlungsspielraum, um Kindern mit Lese-, Rechtschreib- oder Rechenschwierigkeiten bestmögliche Unterstützung und Förderung im Unterricht im Sinne eines Nachteilsausgleichs zukommen zu lassen. Diese Richtlinien sind bewusst sehr allgemein gehalten, um es zu ermöglichen, dass für jedes Kind individuelle Maßnahmen ergriffen werden können. Allerdings habe ich in meinen Lehrerfortbildungen festgestellt, dass gerade diese allgemeinen, zugegebenermaßen recht schwammig formulierten Förderempfehlungen, Lehrerinnen und Lehrer häufig stark verunsichern. Dies führt dazu, dass Eltern sich oft auf das Ermessen und Selbstvertrauen im Umgang mit den Erlässen der Schulen verlassen müssen, was zu unterschiedlichen Erfahrungen und Behandlungen führen kann.
Häufig wird angenommen, dass Schulen in Österreich frei entscheiden können, ob sie Schülerinnen und Schüler mit besonderen Bedürfnissen unterstützen. Das ist jedoch nicht korrekt!
Das Rundschreiben Nr. 24/2021 des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft und Forschung (BMBWF) enthält verbindliche Richtlinien, keine bloßen Empfehlungen. Während Leitlinien lediglich Orientierung bieten, sind Richtlinien bindend. Schulen sind daher verpflichtet, angemessene Maßnahmen zu setzen, um Schülerinnen und Schüler mit Beeinträchtigungen – etwa bei Lese-/Rechtschreibschwierigkeiten – zu unterstützen.
Das bedeutet: Individuelle Anpassungen sind kein freiwilliges Entgegenkommen, sondern eine notwendige Maßnahme, um Chancengleichheit im Bildungssystem sicherzustellen.
In Deutschland müssen Eltern den Nachteilsausgleich beantragen Als Grundvoraussetzung gilt ein vorliegender Befund. Die Art und der Umfang der Förderung müssen anschließend in einer Klassenkonferenz unter Vorsitz des Schulleiters beschlossen und dokumentiert werden. In manchen Bundesländern muss der Nachteilsausgleich für jedes Schuljahr neu bestimmt werden.
Diese bürokratischen Schritte sind in Österreich nicht erforderlich. Lehrerinnen und Lehrer können ganz unbürokratisch erforderliche Maßnahmen, die in den Erlässen empfohlen werden, einsetzen. In Österreich ist außerdem kein Befund notwendig damit Lehrkräfte Lese-, Rechtschreib- oder Rechenschwierigkeiten berücksichtigen dürfen, allein ihre Beobachtungen aus dem Unterricht sind ausreichend.
Ein offizieller Befund soll betroffenen Kindern helfen, indem er bestimmte Erleichterungen ermöglicht. Doch nicht alles, was auf den ersten Blick nach einem Vorteil aussieht, bringt in der Praxis wirklich einen Nutzen. Die einzigen beiden Zusatzmaßnahmen, die nur mit einem klinischen Befund möglich sind, nehmen wir im Folgenden genauer unter die Lupe.
Ja, der berühmte Zeitzuschlag als Lösung aller Probleme! Laut dem Rundschreiben Nr. 24/2021 kann Schülerinnen und Schülern mit einer Lese-/Rechtschreibstörung ein Zeitzuschlag bei schriftlichen Prüfungen gewährt werden. Wie viel? Das entscheidet die Lehrkraft. Ob es etwas bringt? Tja, das ist die andere Frage.
Meine persönliche Meinung:
Ich bin skeptisch.
Natürlich gibt es Kinder, für die ein Zeitzuschlag wirklich sinnvoll ist. Aber eben nicht für alle. Statt einer Standardlösung wäre eine individuelle Herangehensweise oft sinnvoller.
Laut Rundschreiben dürfen Rechtschreibfehler bei Kindern mit Lese-/Rechtschreibstörung in Deutsch und Fremdsprachen ganz oder teilweise unberücksichtigt bleiben. Klingt erstmal nett und unterstützend – ist es das aber wirklich?
Meine persönliche Meinung:
Ich bin ehrlich: Ich halte wenig davon. Denn was sagt das dem Kind? „Ach, deine Fehler zählen nicht, du brauchst dich eh nicht verbessern.“ Was für ein großartiges Signal für die Zukunft! Hoffentlich sieht das der zukünftige Arbeitgeber auch so.
Ja, Kinder mit einer Lese-/Rechtschreibstörung haben es schwerer – aber genau deshalb brauchen sie Förderung, nicht Nachsicht. Sie sollen die Chance bekommen, sich zu verbessern, anstatt dass ihnen gesagt wird: „Passt schon so.“
Natürlich geht es nicht darum, sie mit schlechten Noten abzustrafen, aber ein sinnvoller Mittelweg wäre wünschenswert. Warum nicht Rückmeldungen zu den Fehlern geben, ohne sie gleich in die Benotung einfließen zu lassen? Oder gezielt an den Schwächen arbeiten, statt sie einfach zu ignorieren?
Maßnahmen wie Zeitzuschlag oder das Ignorieren von Rechtschreibfehlern klingen auf dem Papier vielleicht gut, haben aber nicht immer den gewünschten Effekt. Viel wichtiger wäre es, individuell zu überlegen, was dem Kind wirklich hilft. Und dabei bitte nicht vergessen: Unterstützung bedeutet nicht, den Kindern Steine aus dem Weg zu räumen – sondern ihnen zu helfen, darüber zu steigen.
Diese Frage stellt sich immer wieder: Bringt ein klinischer Befund für ein Kind mit Lese-/Rechtschreibstörung eigentlich Vorteile? Theoretisch nein, praktisch ja.
Warum? Weil Lehrkräfte in Österreich laut den bestehenden Richtlinien auch ohne offiziellen Befund verpflichtet sind, entsprechende Maßnahmen zur Unterstützung zu setzen. Klingt gut in der Theorie, oder? In der Praxis sieht es allerdings oft anders aus. Ein schriftlicher Nachweis kann helfen, Missverständnisse und Diskussionen zu vermeiden.
Meine persönliche Meinung:
Ein Befund kann durchaus von Vorteil sein, denn er sorgt für Klarheit. Lehrkräfte haben dann keine Ausreden mehr und müssen individuelle Anpassungen wirklich umsetzen. Denn mal ganz ehrlich, je mehr Papierkram, desto ernster wird das Kind genommen.
Der Berufsverband Akademischer Legasthenie-Dyskalkulie-TherapeutInnen (BALDT) hat auf Basis der gesetzlichen Rahmenbedingungen Leitgedanken für den Umgang mit Lernstörungen am Schulstandort entwickelt. Diese Leitgedanken sind in der neuen Handreichung „Der schulische Umgang mit Lese-/Rechtschreibschwierigkeiten“ verankert. Das bedeutet, dass das dahinterstehende Konzept vom Bildungsministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung unterstützt und anerkannt wird, weil die rechtlichen Grundlagen darin enthalten sind. Sie umfassen die wichtigsten Unterstützungsmöglichkeiten, die für Schülerinnen und Schüler angewendet werden können. Liebe Lehrerinnen und Lehrer, ihr dürft folglich die nun aufgezählten Maßnahmen mit gutem Gewissen in eurem Unterricht umsetzen.
In Österreich existiert kein direktes Pendant zum deutschen Nachteilsausgleich oder Notenschutz. Dennoch verfügen unsere Lehrerinnen und Lehrer über einen beträchtlichen Handlungsspielraum, den sie zum Wohle der individuellen Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler nutzen können. Meine Erfahrung zeigt, dass es den Lehrkräften in der Regel nicht am guten Willen mangelt, sondern eher am Mut, sich für die betroffenen Kinder einzusetzen und erforderliche Maßnahmen zur Entlastung zu ergreifen.
Alī ibn Abī Tālib, Schwiegersohn des Propheten Mohammed und eine zentrale Figur des Islam, um 600 – 661
Wer zu sehr die Folgen bedenkt, kann nicht mutig sein.
Johann Wolfgang von Goethe, deutscher Dichter, 1749 – 1832
Der Worte sind genug gewechselt, Laßt mich auch endlich Taten sehn! Indes ihr Komplimente drechselt, Kann etwas Nützliches geschehn.
Beiträge meiner Kolleginnen aus dem Lerntherapeutennetzwerk:
Nachteilsausgleich bei LRS und Rechenschwäche – Was gilt in Niedersachsen? (von Sabine Landua, Lerntherapeutin)
Der Nachteilsausgleich bei Legasthenie und Dyskalkulie unter der Lupe (von Susanne Seyfried, Lerntherapeutin in Baden-Württemberg)
Nachteilsausgleich bis zum Abi (von Susanne Seyfried, Lerntherapeutin in Baden-Württemberg)
Handreichung "Der schulische Umgang mit Lese-/Rechtschreibschwierigkeiten", 2022, Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung, Wien (zuletzt abgerufen am: 27.01.2025)
Handreichung "Der schulische Umgang mit Rechenschwierigkeiten", 2023, Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung, Wien (zuletzt abgerufen am: 27.01.2025)
Leitgedanken für den Umgang mit Lese-/ Rechtschreibstörung und Lese-/ Rechtschreibschwäche am Schulstandort, BALDT (zuletzt abgerufen am: 27.01.2025)
Leitgedanken für den Umgang mit Dyskalkulie, Rechenstörung und Rechenschwäche am Schulstandort, BALDT (zuletzt abgerufen am: 27.01.2025)
Mitteilung des Wiener Stadtschulrates an alle allgemeinbildenden Schulen (2016), (zuletzt abgerufen am: 27.01.2025)
Rundschreiben Nr. 24/2021 "Richtlinien für den Umgang mit Lese-/Rechtschreibschwierigkeiten (LRS) im schulischen Kontext", 2021, Bundesministerium für Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung, Wien (zuletzt abgerufen am: 27.01.2025)
Rundschreiben Nr. 27/2017 "Richtlinien für den schulischen Umgang mit Schülerinnen und Schülern mit Schwierigkeiten beim Rechnenlernen", 2017,Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung, Wien (zuletzt abgerufen am: 27.01.2025)
Rundschreiben Nr. 11/2021 "Prüfungskandidatinnen und Prüfungskandidaten mit Behinderungen, chronischen Krankheiten etc. Angemessene Vorkehrungen für Prüfungskandidatinnen und Prüfungskandidaten im Rahmen abschließender Prüfungen", 2021, Bundesministerium für Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung, Wien (zuletzt abgerufen am: 27.01.2025)
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